Die Spezies Mensch blickt auf Jahrtausende währende erfolgreiche Lebensstrategien zurück, die verschiedenste Gesellschaftsformen und Normen des „Miteinander Lebens“ hervorgebracht haben. Es wäre vermessen zu denken, gesellschaftliche Entwicklung sei linear, und führe vom Primitiven zum Besseren. Wir müssten dann fragen, woran wir das Bessere messen und wie wir es bewerten sollen? Machen wir „Fortschritt“ an einer materiell bequemeren Lebensweise fest, oder eher an Faktoren wie Gerechtigkeit, Freiheit, Selbstbestimmung, frei sein von Angst, Freude auf Morgen?

Zusammenarbeit als evolutionärer Vorteil

Gehen wir nochmal zurück und schauen auf das, was uns als Spezies erfolgreich gemacht hat und eng mit unserer DNA des Menschseins verbunden ist. Anthropologische Forschungen belegen, dass Jäger und Sammlergruppen kooperativ und arbeitsteilig gewirtschaftet haben, um das Überleben der Gruppe zu sichern. Es wurde gemeinsam Nahrung beschafft und miteinander geteilt und gemeinsam Kinder aufgezogen. Knochenfunde belegen, dass die vorherrschende Theorie, Männer seien für die Jagd und Frauen für das Sammeln von Nahrung und die Kindererziehung verantwortlich gewesen, nicht stimmen kann. Diese Interpretation entspringt wohl eher unserer heutigen Geschlechterwahrnehmung. Realistischer ist es, dass sich Rollen entlang der physischen Fähigkeiten entwickelt haben, und nicht anhand „vorgegebener“ Muster und Hierarchien. Individuen, die sich abweichend egoistisch verhielten, wurden aus den Gruppen ausgeschlossen. Dies schuf die genetische Basis für das heutige Moralempfinden.

Um in kleineren Gruppen zu überleben, hat uns die Evolution mit einem phänomenalen Set an sozialen Instinkten ausgestattet. Diese sind uns angeboren, müssen nicht erlernt werden und sind überall auf der Welt elementar gleich. Sie entsprechen unserer ersten, instinktiven Natur. Zu dieser ersten Natur gehören Empathie, Fürsorge, ein grundlegender Sinn für Fairness, Empörung über Unrecht, Abscheu vor Tötung und das Gefühl der Verpflichtung, wenn uns jemand einen Gefallen getan hat. Sind Sie schon einmal auf der Straße gestürzt und haben Hilfe von fremden Menschen erfahren? Haben diese Helfer:innen zuerst nach Ihrem Bankkonto gefragt oder anderweitig überlegt, inwieweit sie aus dieser Situation einen Vorteil ziehen könnten? Nein, es sind diese grundlegenden Impulse, Grundbausteine des Menschseins, unsere erste Natur, die unser Zusammenleben und Fortbestand über den größten Zeitraum unserer evolutionären Entwicklung ermöglicht haben.

Kulturelle Adaption als Überlebensstrategie

Gesetze, Regeln, Sitten und Gebräuche, Staaten, Religionen, die Manifestation von Macht und damit systemische Ungleichheit sind vergleichsweise jüngere gesellschaftliche Phänomene, die erst durch das sprunghafte Bevölkerungswachstum infolge der Sesshaftwerdung entstanden sind, einer der einschneidendsten Wendepunkte in der Menschheitsgeschichte, der uns bis heute prägt. Die Erfindung von Ackerbau und Viehzucht führte zu höheren Geburtenraten und somit zur raschen Vermehrung. Es entstand erstmals Besitz und damit die Notwendigkeit, diesen zu zählen, zu verwalten und zu beurkunden. Die Erfindung der Schrift geht auf diese Zeit zurück, und es ist etwas enttäuschend, gleichzeitig aber auch vielsagend über uns, dass nicht Poesie sondern schnöde Buchhaltung der Grund dafür ist. Die Zunahme der Bevölkerung verursachte erstmals Rivalitäten und Konflikte um Ressourcen. An die Stelle der einstmals solidarischen Gruppen traten hierarchische Gesellschaften mit zunehmender systemischer Ungleichheit, insbesondere zu Lasten der Frauen, die zum einen durch die häufigen Geburten gesundheitlich in der Defensive waren, zum anderen aber auch durch die sich verfestigende Existenz von Gewalt, was als kollektive Männerdomäne wahrgenommen und verherrlicht wurde.

Die biologische Adaption sorgt dafür, dass wir physisch und psychisch in unseren Lebensraum passen. Die kulturelle Adaption sorgt dafür, Regeln und Mechanismen zu finden, um mit veränderten gesellschaftlichen Bedingungen klarzukommen. Die kulturelle Adaption bescherte uns die komplexe Welt, in der wir heute leben: mit Jägern und Sammlern, die es weiterhin vorziehen, als solche zu leben, mit Megastädten, mit Religionen, mit Glaubenskriegen, mit atemberaubenden Technologien, aber auch mit Liebe, mit dem Bedürfnis nach Gemeinschaft, mit einem fundamentalen Sinn für Fairness, mit dem Bauchgefühl für Richtig und Falsch, kurz, mit den komplexen psychologischen, sozialen und emotionalen Grundausrüstung des Mensch Seins.

Nichtstun ist keine Zukunftsoption, auch nicht mittelfristig.

Nun leben wir im Spätkapitalismus, mit entsprechenden Gegebenheiten, die zwar unsere rationalen Grundbedürfnisse nach „Versorgung“ ansprechen, aber intrinsische Dinge wie Solidarität, reziproke Verpflichtung, Dinge wie flexible Sozialstrukturen, sozialen Zusammenhalt, Freiheit und Gerechtigkeit, also unser eigentliches evolutionäres Erfolgsrezept, vermissen lassen.

Was lehrt uns das? Wahrscheinlich ist unsere heutige Gesellschaft nicht der Höhepunkt der Zivilisation, und unsere Gegenwart nicht das vollkommene Glied in der Menschheitsgeschichte. Wir sind an einem Kapitel der Menschheitsgeschichte angelangt, an dem die negativen sozialen und ökologischen Folgen unserer Wirtschaftsweise einer dringenden gesellschaftlichen Neuausrichtung, einer notwendigen kulturellen Adaption, bedürfen. Nichtstun ist keine Zukunftsoption, nicht einmal mittelfristig.

Wie gelingt Transformation zu einer sozialen und ökologischen Weltgemeinschaft

Wir müssen uns also fragen, wie wir weitermachen, um unser Dasein vom Status Quo hin zu einer sozial- und klimaverträglichen Weltgesellschaft zu entwickeln. Eine mögliche konstruktive und zukunftsrelevant Lösung könnte das demokratisch verfasste Wirtschaftsmodell der Gemeinwohl-Ökonomie sein. Dieses Modell richtet das Ziel von wirtschaftlicher Aktivität am Beitrag zum Gemeinwohl aus. Das bedeutet, dass nicht mehr Geld das Ziel von Wirtschaft ist, und alle unternehmerischen Entscheidungen sich am Mehren des Gewinnes orientierten, sondern dass das das Ziel eines Unternehmens ist, einen Beitrag zum guten Leben Aller zu leisten. Unbestreitbar ermöglicht dieses Modell, ein für eine gelingende Zukunft sinnvoll gestalteten Umgang mit Ressourcen umzusetzen.

Klingt das nach Utopie? Nicht wirklich. Denn neu sind diese Gedanken nicht. Von Aristotels bis Thomas von Aquin findet man „gelingende Gemeinschaft“, als Ursache des Lebensglückes. Zigong fragte: „Gibt es ein einziges Wort, das unser ganzes Leben leiten kann?“ Der Meister antwortete: „Sollte es nicht die Gegenseitigkeit sein?“ (Gespräche des Konfuzius, Buch 15). Das Ausmaß des vor uns liegenden Übergangs ist kaum zu überschätzen. Er ist hinsichtlich der Eingriffstiefe in Produktion, Konsummuster und Lebensstile vergleichbar mit den beiden fundamentalen Transformationen der Weltgeschichte: der Neolithischen Revolution, also der Erfindung und Verbreitung von Ackerbau und Viehzucht, sowie der Industriellen Revolution.

Vielleicht hilft es, sich vorzustellen, wie sich diese anfühlen wird und wie und welche Werte wir leben werden. Wir Menschen brauchen Geschichten und positive emotionale Bilder für ein gemeinsames Handeln. Wir brauchen Fühlen und Leidenschaft, und wir müssen verstehen, dass wir Teil eines lebendigen Gewebes sind, in welchem jeder Faden aneinander bindend, miteinander verflochten ist. Zunächst sind Hürden zu überwinden, das ist anstrengend, insbesondere das Überwinden von erlernten Narrativen und Abhängigkeiten. Nichtsdestotrotz ist die Zukunftsvision das Entscheidende, um Kraft zu finden, gemeinsam voranzugehen.

Unsere gegenwärtige Herausforderung ist es, unsere eigentlichen Bedürfnisse, die des Mensch Seins, wieder in den Vordergrund unserer Lebensrealität zu rücken und die Erkenntnisse aus Psychologie, Ethik, Philosophie und Soziologie, aus unserer ersten Natur, in unserer Lebens- und Wirtschaftsweise abzubilden.

Ein Text von Kathrin Franke über den Weg zu einer menschlicheren Wirtschafts-, Arbeits- und Lebensweise als grundlegender Baustein der dringend nötigen sozial-ökologischen Transformation.

Literatur:

Carel van Schaik „Das Tagebuch der Menschheit was die Bibel über unsere Evolution verrät“

Hauptgutachten WGBU „Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation

BOTSCHAFT VON PAPST FRANZISKUS ZUM WELTTAG DER SOZIALEN KOMMUNIKATIONSMITTEL 2020